29.04.2015

Macht und Grenzen der „Minority Reports“

Paranoia, Opportunitätsprinzip und die Fälle Mohammed Hamzah Khan und Sami Osmakac


Spielfilme spiegeln und diskutieren nicht nur das Verhältnis einer Gesellschaft zum Terrorismus samt den vielfältigen Problemen, die mit ihm einhergehen. Sie können auch als fiktionale Fallbeispiele – z.B. im Sinne einer Parabel – oder erzählerisch veranschaulichende Gedankenspiele (etwa als zukunftsgerichtete Extrapolation) fungieren. Ein Film oft zurückgegriffen, auf den wenn es um die Folgen der Terrorismusprävention und -bekämpfung geht, ist Steven Spielbergs Adaption der Kurzgeschichte von Philip K. Dick MINORITY REPORT (USA 2002) mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Dessen Science-Fiction-Szenario sieht eine „Gedankenpolizei“ voraus: Hellseherisch begabte „Precogs“ prognostizieren konkrete Verbrechen, die eine „Precrime“-Einheit der Polizei dann rechtzeitig zu verhindern sucht. Die Täter in spe werden auf Basis dieser unfehlbaren Vorhersagen verurteilt.

Tom Cruise in MINORITY REPORT (DVD-Screenshot)

Neben der Debatte um „Predictive Policing“ wird dieses – je nach Standpunkt und Profession – utopische oder dystopische Vision in letzter Zeit erneut bemüht, wenn es um den Komplex Terrorismus, staatliche Überwachung und Big Data geht. In seiner Amtsantrittsrede am 8. Oktober 2013 verkündete etwa der MI5-Director General Andrew Parker in der Übersetzung eines Berichts der Heinrich-Böll-Stiftung:

In einem gewissen Sinne ist Terrorismusbekämpfung eine außergewöhnliche Angelegenheit. Lassen Sie mich sagen, was ich meine. Terrorismus ist, aufgrund seiner Natur und der Folgen, der einzige Bereich der Kriminalität, wo die Erwartung manchmal zu sein scheint, dass die Statistik Null sein sollte. Null. Stellen sie sich vor, das selbe Ziel würde auf Mord im Allgemeinen oder organisierten Drogenhandel angewendet werden. Das kennt man nur von ‚Precrime‘ aus dem Tom Cruise Film ‚Minority Report‘. Das Leben ist nicht wie im Film. In einer freien Gesellschaft ist Null, angesichts der anhaltenden und ernsthaften Bedrohungen, natürlich unmöglich zu erreichen – jedoch werden wir weiterhin danach streben.

Jan-Peter Kleinhans zitiert Parker auf netzpolitik.org (im Original-Englisch) weiter:

We do not want all-pervasive, oppressive security apparatus… The reality of intelligence work in practice is that we only focus the most intense intrusive attention on a small number of cases at any one time.

Allerdings:

The MI5 will still need the ability to read or listen to terrorists‘ communications if we are to have any prospect of knowing their intentions and stopping them. The converse to this would be to accept that terrorists should have means of communication that they can be confident are beyond the sight of MI5 or GCHQ acting with proper legal warrant. Does anyone actually believe that?

Kleinhans selbst dazu:

Das kann man auch als offizielle Begründung sehen, warum man in Großbritannien Passwörter der Polizei und Staatsanwaltschaft übergeben muss: Es darf keinen Kommunikationskanal geben, der nicht der staatlichen Überwachung unterliegt, denn dieser könnte durch Terroristen ausgenutzt werden.


Statt der Möglichkeit, wie Precogs in die Köpfe bzw. in die Zukunft direkt zu schauen, muss man sich mit der Interaktion und Kommunikation beschäftigen. Nun ist das Problem, zwischen Sicherheit und Freiheit abzuwägen, die Debatten und Diskurse um Förderungen der Sicherheitsbehörden nach effizienten Überwachungsmaßnahmen für ihre Arbeit im Namen der Sicherheit und Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber eben diesen Behörden so alt wie vertrackt, hat – durch die Enthüllungen Edward Snowdens hier, den Anschlägen vor allen in Paris da – aber neue Brisanz und Dringlichkeit erfahren, die dazu durch die Entwicklungen in Sachen Vorratsdatenspeicherung konkret wird.

Ein anderer fundamentale Aspekt gerät bei in diesem Gefecht um Recht und Werte allerdings ein wenig ins Hintertreffen (ist zugleich relativ unbemerkt, aber zumindest am Rande assoziiert mit einer scheinbar ganz anderen aktuellen Problematik, die jüngst vor allem um Nicht-Verurteilung Sebastian Edathys und der Debatte um seine Schuld in den Sozialen Medien Thema wurde): die der Vorverurteilung.

In seinem noch immer und heute wieder lesenswerten Buch von 2008 mit dem etwas reißerischen und etwas irreführenden Titel „Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Politik Angst macht“ befasst sich Heribert Prantl, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, ehemaliger Staatsanwalt und Richter grundsätzlich mit den negativen Auswüchsen im Kampf gegen den Terrorismus – und dies vor allem unter rechtsstaatlicher und rechtsethischer Perspektive. Auch er zieht bei seiner Beschäftigung mit der „Präventionseuphorie“ MINORITY REPORT mit dessen Thema der „repressiven Prävention“ als illustratives Beispiel heran [1]. Die „stärkste Waffe“ der „Präventivdikatur“ sei darin das Wissen, aufgrund dessen die „Gefahrenpersonen“ weggesperrt (oder im Film in eine Koma als neuartige Form der Haftstrafe versetzt) werden. Prantl gibt dabei allerdings zu bedenken:

Ist es aber nicht so, dass ein potentieller Täter bis zum Augenblick der Tat noch die Wahl hat, sie nicht auszuführen? Ist es nicht auch so, dass Menschen mit ganz vielen bösen Gedanken nur spielen, dass dieses Spiel eine Methode sein kann, mit Leid und Leidenschaft innerlich fertig zu werden? Sind Gewaltphantasien oft nicht eine Art Selbsttherapie?“ [2]

Bei Prantl läuft es auf eine Kritik an der Vorbeugehaft und Sicherheitsverwahrung mit ihren (falschen) Prämissen hinaus; weiterdenken lässt sich das bis zur Terrorverdächtigung, zu Folterverhören und Inhaftierungen in Guantanamo Bay und sonst wo auf der Welt, zur Einschränkung oder gar Versagung elementarer Bürger-, Grund- und Menschenrechte, deren Prinzipien und Rechtsnormen (neben der Aushöhlung des maßgeblichen „in dubio pro reo“ thematisiert Prantl, in Kapitel 4 seines Buches, unsägliche Überlegungen anderer zu einem „Feindstrafrecht“).

Überwachung, Vorhersage von Straftaten und der Beginn des Schuldigwerdens, der Sich-Schuldig-Machens verweisen aber auch in eine andere Richtung, die selbst wiederum leicht ins Reich der Verschwörungstheorie führt (wo denn auch der Kernplot von MINORITY REPORT ansiedelt, so wenn der von Tom Cruise gespielte Polizist im Zuge einer Intrige selbst eines kommenden Verbrechens bezichtigt wird).

Erinnert sei an den zunächst unproblematischen scheinenden Fall der „Sauerland-Gruppe“. Die deutsche Zelle der Islamischen Jihad-Union (IJU), Fritz Gelowicz, Daniel Schneider, Adem Yilmaz und Atilla S., planten einen Anschlag hierzulande, wurden jedoch dabei von den Sicherheitsbehörden auf Basis von NSA-Informationen aus dem „PRISM“-Programms überwacht (von 500 involvierten Beamten ist die Rede). Das Wasserstoffperoxid zum Bombenbau wurde vorab gegen eine geringer potente, mit Mehl versetzte und damit harmlose Mischung ersetzt. 2007 kam es zum Zugriff, es folgten Anklagen u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, Vorbereitung von Sprengstoffverbrechen und Verabredung zum Mord. Vier Verurteilungen erfolgten zu zwischen fünf und zwölf Jahren Haft.

Immer wieder wird der Fall von politischer und behördlicher Seite als (Erfolgs-)Beispiel für die Relevanz der Arbeit von BKA, Verfassungsschutz, gar BND, sowie der Kooperation mit ausländischen Diensten herangezogen. Diese soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden.
Ein anderes, in mehrfacher Hinsicht aktuelleres und nicht ganz so eindrückliches, gerade deswegen aber aufschlussreicheres Beispiel ist der Fall Mohammed Hamzah Khan. Am 4. Oktober 2014 betritt der 19-jährige mit seinem 16 Jahre alten Bruder und seiner 17-jährigen Schwester den O’Hare International Airport in Chicago. Reist man dort aus dem Ausland ein, muss man durch die Kontrolle der Grenzbeamten. Von ihren erhöhten Pulten schauen sie misstrauisch, einschüchternd auf einen herab, fragen nach dem Besuchsgrund, lassen sich über den elektronische Leseapparat Fingerabdrücke geben. Beim Abflug ist das nicht der Fall. Und so stellen sich die drei Geschwister an in die Schlage für einen Flug nach Wien. Von dort soll der Anschluss weitergehen nach Istanbul. Ein Rückflug über Zürich nach Chicago ist für den 9. Oktober gebucht. 2.600 US-Dollars sind die Tickets insgesamt wert.

Beim Passieren der Sicherheitskontrolle von Gate M14 und M15 wird Mohammed Hamzah Khan von Beamten der Customs and Border Protection (CBP) gegen 14.30 Uhr abgefangen und befragt. Er erklärt, keine Verwandten in Istanbul zu haben, dort zwei oder drei Nächte in einem Hotel unterkommen und anschließend wieder heimfliegen zu wollen. Nach der CBP verhören ihn FBI-Agenten für drei Stunden. Am Abend wird er festgenommen. Derweil durchsucht die Bundespolizei sein Zuhause in Bolingbroke, einem Vorort von Chicago, 74.000 Einwohner auf ca. 62 Quadratkilometern, Durchschnittseinkommen rund 80.000 US-Dollar pro Jahr. Die Eltern, indische Immigranten, haben von dem Verschwinden der Kinder nichts mitbekommen. Heimlich hatte Mohammed die neuausgestellten Pässe der drei genommen und mit ihnen ein Taxi Richtung Flughafen bestiegen.

Mohammed Hamzah Khna

Im Haus der Khans finden die Polizeibeamten belastendes Material: Ein dreiseitiger, bis dahin unentdeckter Abschiedsbrief, in dem die Eltern angewiesen werden, nicht die Behörden zu informieren. Ein Notizbuch, in dem die Reiseroute von Istanbul über „Esekir“, „Koyar“ und „Adana“ (vier aufgelistete, mögliche Kontaktpersonen können dort als Ansprechpartner dienen), dann wahrscheinlich nach Urfa. Von dort weiter nach Syrien oder in den Irak, jedenfalls: ins „Kalifat“ des „Islamischen Staats“. Weitere Notizen eröffnen Gedankensplitter: „Islamic State in Iraq and Levant. Here to stay. [...] My nation, the dawn has emerged“. Handzeichnungen des IS-Flagge und anderer Terrororganisationen, außerdem die eines IS-Kämpfers. „Come to Jihad“. Ähnliche Notizen und Kritzeleien finden sich u.a. in einem Spiralblock in einem von Mohammed genutzten Auto.

Khan, im Verhör auf dem Flughafen, verzichtet auf seine Miranda-Rechte – dem Recht zu Schweigen, das Recht auf einen Anwalt etc. Er gibt Auskunft darüber, wie er online Kontakt fand zu einem Radikalen, der ihm eine Telefonnummer gab. Diese sollte Mohammed anrufen, sobald der in Istanbul sei. Die Kontaktperson würde ihn weiter in / zum Islamischen Staat schleusen. Er habe dort bleiben wollen; dass er bei der Rückkehr in die USA hätte verhaftet werden können, sei ihm bewusst gewesen. Was er beim IS vorgehabt habe? Eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst, als Polizist, humanitäre Hilfe leisten. Oder Dienst an der Waffe. „An Islamic State has been established and it is thus obligatory upon every able-bodied male and female to migrate there“, so hat Mohammed in seinem Abschiedsbrief an die Eltern geschrieben.

Das Bezirksgerichts von Nord-Illinois, zuständig für den Fall „die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Mohammed Hamzah Kahn“, klagt im Januar 2015 den jungen Mann an wegen

knowingly attempted to provide material support and resources, namely, personnel, to a foreign terrorist organization, namely, the Islamic State of Iraq and the Levant, knowing that it was a designated foreign terrorist organization and that the organization had engaged and was engaging in terrorist activity and terrorism.“

Als designated foreign terrorist organization gilt ISIS bzw. IS als Nachfolgegruppierung von al-Qaida im Irak dem US-Außenministerium seit dem 15. Mai 2014.

Ist Mohammed Hamzah Khan ein Terrorist oder ein verwirrter, verirrter Teenager? Fragt etwa NBC Chicago.

Es ist eine Frage, die sich so und ähnlich auch bisweilen in Deutschland stellt, etwa wenn es um die 16-jährige Eilif Ö. aus Neuried bei München geht, die sich Ende Februar 2015 über die Türkei in das „Kalifat“ von Abu Bakr al-Baghdadi abgesetzt hat. Und auch die deutsch-türkische Schülerin ist über Online-Propaganda und v.a. -Bekanntschaften „gelockt“ oder „verführt“ worden (s. HIER od. HIER).

Was Mohammed Hamzah Khan anbelangt, gewährt der Jihad and Terrorism Threat Monitor des MEMRI (The Middle East Media Research Institute) Einblicke des Angeklagten YouTube- und GooglePlus-Profile. Ein Befund, die Videoplattform betreffend, lautet:

Earlier liked videos by Khan include videos from the NBA and of martial arts, but also videos related to Islam and Muslims such as a France 24 report on Gaza. He also has liked several comedic videos related to Islam and several videos featuring nasheeds (Islamic songs) related to Syria, and clips of Sheikh Muhammad Al-Yogoubi. He is also a fan of Vice News, and has liked videos related to Bedouins, Ukraine, and Afghanistan.“

Bei allem berechtigten Interesse an dem Persönlichkeitsprofil, an der wie auch immer definierten „Inneren“, der geistigen, psychologischen und emotionalen Verfasstheit des Angeklagten, allem Aufschluss über die Radikalisierungskarriere, dem Verständnis für Mentalität und Motivationen – und sei es zu Präventionszwecken – doch zumindest angebracht, innezuhalten und sich die Frage zu stellen: Ist es wirklich so ohne weiteres in Ordnung, derlei Privatinformationen, analoge wie digitale öffentlich zu machen? Zumal MEMRI auch die Profile von mit Mohammeds Account verlinkten Personen aufführt und sie damit potenziell unter Verdacht stellt?

Generell verdeutlicht der Fall Mohammed Hamzah Khan die Mehrdimensionalität der Sozialen Medien und des Web 2.0 allgemein in Sachen Radikalismus, Extremismus und Terrorismus.

So gilt das Netz zunächst als Hort der Indoktrinierung und Radikalisierung

a) indem es propagandistische oder propagandistisch gebrauchte Inhalte in Form von Berichten, von Bildern, Tonaufzeichnungen oder Videos einfach verfügbar macht und verbreiten hilft und

b) den Austausch mit Gleichgesinnten sowie – der vielleicht gravierendste Aspekt – den anonymen Kontakt mit „Menschenfängern“ ermöglicht, der auf nicht unmittelbarer Face-to-Face-Ebene, aber doch auf persönliche Bekanntschaft und Vertrauensschluss hinauslaufen kann sowie schließlich auf Überzeugungsarbeit und konkrete Vorbereitung und Hilfestellung zum Handeln, eben der Ausreise in den „Jihad“ (wenn nicht gar heimischen Anschlägen). Auch bei Eilif Ö. war die allgemeine Beschäftigung mit ideologischen Inhalten nur der Anfang, der die individuelle Beziehung mit einer vom Leben im IS schwärmenden Cyber-Vertrauten folgte. Finanzielle Unterstützung sei hierüber dafür angeboten worden.

c) Das Web dient der Selbstpräsentation, der Identitäts- und Weltsichtstärkung – eine Präsenz, die auch ausgewertet werden kann, um ein digitale Persona zu (re-)konstruieren, durch Gleichgesinnte, die einander so erkennen, aber auch durch die berichterstattenden Medien, die Öffentlichkeit, durch Polizeibehörden und Geheimdienste, schließlich Staatsanwaltschaft, die Äußerungen jedweder Form, Postings und bildporträthafte Eigendarstellungen bzw. -inszenierungen, Galerie-Bildwelten etc. verwenden, um auf Einstellungen, Absichten und Charakter zu schließen.

d) Dies schließt an die Vorstufe an, die uns zurückführt zur technischen Überwachung und dem daraus resultierenden, womöglich gar nicht so minoritären „Report“: Der klandestinen Beobachtung von Verdächtigen on- und offline und der Vorausschau im Spannungsfeld zwischen bloßem Registrieren und eingreifendem Handeln.

Während FBI-Special Agent Dana C. McNeal in ihrer eidesstattlichen Aussage Einblick in die Umstände der Verhaftung Khans und die Ergebnisse der Hausdurchsuchung gibt, dabei immer wieder die bemerkenswerte Formel „based on my training and experience“ verwendet, während sich viele Medien fragen, wie es mit einem braven jungen Mann aus Illinois hat soweit kommen können und sich seine muslimische Glaubensgemeinde bemüht, nicht als Hort des islamistischen Extremismus dazustehen, bleibt eine spannende Frage ungestellt: Woher wusste das FBI eigentlich von Khans Plänen, sodass er mit seinen Geschwistern vor dem Abflug festgesetzt werden konnte?

Am oder um den 26. September 2014 erhielt man, so die FBI-Beamtin, von Austrian Airlines Informationen darüber, dass die entsprechenden Flugtickets gekauft worden seien. Ein Fall von Fluggastdatenabgleich. Doch wieso sprangen die Alarmglocken daraufhin an? Es liegt der Verdacht nahe, dass Mohammed Hamzah Khan vielleicht nicht gezielt überwacht, so sich doch aber im automatisierten Überwachungsnetz der Behörden verfing – ein Platz auf der Liste der zu Beobachtenden, eine Name unter vielen, der plötzlich rot aufleuchtete, als dieser mit den Daten der Ticketbestellung verknüft wurde. Wie aber kam Khan überhaupt auf diese Liste? Abermals Spekulation: Über seine Internetaktivitäten hat er sich verdächtig gemacht, sei es über das Surfen auf registrierten Seiten, sei es über Äußerungen und geteilte Inhalte in den sozialen Netzwerken.

Verschwörungstheoretiker (und leider nicht nur solche) mögen auf die Idee oder wenigstens Überlegung verfallen, dass Khan als Möchtegern-Terrorist bewusst im Web von agents provocateurs geködert wurde, dass sich einer oder mehrere Staatsbedienstete sich als Islamisten ausgegeben haben, um ihn zu testen, vielleicht auch zu verführen, mit Ziel, einen weiteren (potenziellen) Jihadisten hervorgelockt und vor allem am Ende dingfest gemacht zu haben.

Das klingt überzogen. Doch der Fall Sami Osmakacs, ein Kosovo-Amerikaner, liefert dazu leider einen Anlass: Der geistig kranke Mann mit Geldsorgen wurde nach Ermittlungen von The Intercept – jener Nachrichten-Website, die von den Snowden-Enthüllern Laura Poitras, Glenn Greenwald sowie Jeremy Scahill betrieben wird – von FBI-Beamten Anfang 2012 im Stil einer tragischen Hollywood-Satire über einen Informanten zum gefährlichen Terroristen gezielt aufgebaut, inklusive Bezahlung und Waffenlieferung für sein „Märtyrervideo“. [3] Publicity-wirksam wurde Osmakac vor seinem „Anschlag“ auf eine Bar im Tampa Bay festgenommen.

The bureau also gave Osmakac the car bomb he allegedly planned to detonate, and even money for a taxi so he could get to where the FBI needed him to go. Osmakac was a deeply disturbed young man, according to several of the psychiatrists and psychologists who examined him before trial. He became a ‘terrorist’ only after the FBI provided the means, opportunity and final prodding necessary to make him one“ (zit. HIER).

Dumm nur, dass die orchestrierte Aktion nicht zuletzt durch die Recherchen von Trevor Aaronson, Autor des Buches The Terror Factory: Inside the FBI’s Manufactured War on Terrorism auf unbequeme Weise aufgedeckt wurde – und weil vor Gericht für die US-Bundespolizei unschmeichelhafte Abhöraufnahmen öffentlich wurden. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wann ein solches Szenario, vielleicht von George Clooney, verfilmt wird.

Sami Osmakac, heimlich aufgenommen vom FBI

Das Dilemma der Verführbarkeit ist eben auch eines der Terroristenjäger, die zu gerne derartige Monster fangen. Man kann sich Karriereschub für Beamte dank der „Vereitelung“ eines Bombenanschlags in den USA vorstellen. Ein weiterer Fall der Übereifrigkeit ist der des SITE-Institutes, dass sich auf das rechtsradikale und jihadistische Treiben im Internet verlegt und als einer der ersten Lieferanten für aufsehenerregende IS-Videos fungiert. Bei der Überwachung des deutschen Ablegers der Global Islamic Media Front (GIMF), des „PR“-Arms von al-Qaida und anderen, ähnlichen Gruppen sorgte ein SITE-Mitarbeiter unter falscher Szene-Identität nach der Festnahme des Betreibers Mohamed Mahmoud (der spätere Chef vom Millatu Ibrahim) und der Schließung von Online-Foren für Ersatz, mietete einen eigenen Server an und stellte Software zur Verfügung [4]. In MINORITY REPORT geht es übrigens letztlich auch um einen nur scheinbaren "Mörder", der der Hauptfigur, dem Polizisten Anderton, für ein Komplott "angeboten" oder untergeschoben wird - sowie um ein Verbrechen, das unter dem Precog-Deckmantel eines anderen begangen wurde.

Von ähnlichen Grenzfällen und Dubiositäten (gelinde gesagt) im Bereich von V-Leuten und Neo-Nazis soll hier gar nicht die Rede sein. Aber auch wenn um die Konstruktion anderer weltlicher Ungeheuer geht, ist die Verlockung groß, diese für sich – auch auf andere Weise – zu nutzen, so was das Phänomen des Serienmörders anbelangt: Die Polizei bediente sich dieser, um sich ungeklärter Mordfälle bequem zu entledigen. [5] Die teilweise exorbitanten Opferzahlen Henry Lee Lucas‘ lassen sich damit erklären (zusammen mit medialen Übertreibungen).

Weit unbequemer, weil komplizierter ist allerdings eine weiterführende Frage. Denn keineswegs soll behauptet werden, dass Mohammed Hamzah Khan (oder gar die Sauerland-Gruppe) Popanze von Geheimdiensten wäre! Es muss auch nicht gleich, selbst in der Causa Osmakac gleiche eine politische Linie, geschweige denn Order vermutet werden, eher ein strukturell bedingtes Verschulden Einzelner auf unterer Ebene, freilich aufgrund entsprechender System-Dispositionen (und eben das würde ja erst den rechten Stoff für eine aufklärerische Satire und Groteske über die conditio humana ausmachen, wie sie mustergültig Barry Levinsons WAG THE DOG von 1997 jenseits von Parteipolitik darstellt).

Doch ist es, und sei es „nur“ in moralischer Hinsicht, durchaus überlegens- und diskussionswürdig, ob die primäre, die essenzielle Aufgabe von Geheimdiensten hier und sonst nicht stärker, im Einzelfall und alltagstauglich wieder und immer wieder fokussiert würde, gerade wenn es um die Terrorismusprophylaxe geht.

Wie weit sollen Überwachende im Einzelfall gehen dürfen – oder eben dezidiert nicht? Dies ist ein Punkt, der bei in den Überwachungsdiskursen als ein ethischer eklatant unterbeleuchtet bleibt. Spielbergs MINORITY REPORT macht es sich dahingehend einfach: Spannung wird erzeugt (wo genau findet die die Tat statt?), indem der Mord am Anfang unmittelbar bevorsteht, somit an der Verwerflichkeit und Entschiedenheit des Täters kein Zweifel besteht.

Es hat mit Misstrauen ob skrupelloser Handlungen von Sicherheits- und Polizeibehörden zunächst wenig zu tun, doch wird leider von solchen „false flag“-Szenarien wie den oben genannten die Überlegung an den diskursiven Rand gedrängt: Wann und inwiefern sind vor allem Geheimdienste verpflichtet, einzuschreiten, wenn sich erst eine Radikalisierung oder entsprechende Handlungen ankündigen?

Hier greift u.a. der rechtliche Begriff des Opportunitätsprinzips. Zu dem heißt es auf der Website des Bundesamts für Verfassungsschutz:

Während die Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft, Polizei) nach der Strafprozessordnung grundsätzlich verpflichtet sind, bei Verdacht einer Straftat von Amts wegen einzuschreiten (Legalitätsprinzip), gilt für die Verfassungsschutzbehörden das Opportunitätsprinzip. Hiernach steht die Entscheidung, ob wegen einer Straftat eingeschritten werden soll, im Ermessen. So kann der Verfassungsschutz wegen einer zu erwartenden relevanten Erkenntnissteigerung auf ein unmittelbares Einschreiten verzichten.

Verwiesen wird dabei auf den Wert von Vertrauensverhältnissen (lies: die Relevanz von V-Leuten), was – Stichwort: NSU – wie erwähnt ein eigenes missliebiges Feld ist. Unbenommen des Umstands, dass zwischen deutschen, britischen oder US-amerikanischen Behörden hinsichtlich ihrer rechtlichen Konstitution, Aufgaben und Befugnisse maßgebliche Unterschiede bestehen, ist angesichts von Fällen wie (dem dahingehend aufgrund des vorhandenen Faktenwissens natürlich nur gedankenspielerisch herangezogenen) Mohammed Hamzah Khans (und weniger Sami Osmakacs) zu überlegen, wann es dem Polizei- und Überwachungsapparat obliegt, einzuschreiten.

Freilich macht es (taktisch) Sinn, zunächst nur zu beobachten, Kontaktpersonen zu identifizieren und ein konkretes Netzwerk an Sympathisanten nachzuzeichnen, um darüber an Verbindungsleute und schließlich extremistische, auch: gewalttätige Hintermänner heranzukommen – die Kommunikationstruktur aufzuklären und letztlich sogar Gewalttaten zu verhindern. Ebenso gut allerdings lässt sich, eingedenk der Broken-Window-Theorie, darüber nachdenken, ob es gebotenere wäre, potenziellen Gewalttätern vorab und relativ früh ein abschreckendes Zeichen zu setzen und sie damit vom falschen Weg abzubringen? Schließlich gibt es so etwas wie die Gefährderansprache als „verhaltensbeeinflussendes Instrument“.

Das ist natürlich eine überaus heikle Idee, schließlich gälte es, verschiedene Faktoren und Güter gegeneinander abzuwägen: die Freiheit von Bürgern (bzw. ihr Recht darauf), auch, was „verbotene“ Phantasien anbelangt, die Mittel und Verfahren von Überwachungsinstitutionen und deren Handlungs- oder Eingriffsabwägung hinsichtlich der Ziele (individuelle „geistige“ Vorbeugung oder spezifische „Handlungs“-Prävention; Intelligence oder individuelle Ermahnung). Befördert derartiges nicht den Überwachungsstaat, legitimiert ihn nicht sogar? Auch das ist schließlich ein Thema in MINORITY REPORT: die individualisierte allgegenwärtige Beobachtung und Kontrolle.

Mag sein. Vielleicht richtet aber die Sorge um eine potenziell permanente und allgegenwärtige klandestine Überwachung im Netz erheblich mehr Schaden an als eine offene, automatisierte, die in Extremfällen einen unverbindlichen Warnhinweis ausspricht und Mohammed Hamzah Khan vielleicht noch einmal zum Nachdenken, gar Einhalten bewogen hätte. Wenn qua Profiling und Algorithmen es ohnehin Alarm gibt, ist dieser nicht auch so zu programmieren, dass er beim Eintritt des Delinquenten in die Grenzzone deutlich für diesen hörbar wird und mithin mahnend wirkt, ohne dass der oder die Nutzerin mit Namen, Adresse, YouTube- und GooglePlus-Profil in den Extremisten-Sieb und auf die Beobachtungsliste und schließlich unterm öffentlich-medialen Brennglas geriete?

Sicher spricht vieles gegen eine solche Idee. Aber allein, dass sie ebensowenig Datenschützern und Netzaktivisten wie – auf der anderen Seite – Geheimdiensten, die sich in ihrer Arbeit eingeschränkt sehen, gefallen dürfte, ist ein Zeichen, dass es lohnt, zumindest in diese Richtung weiterzudenken, selbst wenn letztlich nichts Konkretes dabei herauskäme. Manchmal ist gerecht ja womöglich wirklich nur, was alle gleich unzufrieden belässt.

Bei einer solchen Vor- oder Zwischenstufe müssten sich Beamte und V-Leute jedenfalls fragen lassen, ob und ggf. weshalb nicht (ja nicht unbedingt durch „menschliche“ Überwacher) schon eingegriffen wurde, ehe der Öffentlichkeit einmal mehr ein erfolgreicher oder erfolgloser Ausreisender als Beleg für die Relevanz und Effektivität ihrer Arbeit präsentiert werden kann. Und ein Überwachungsapparat, der zumindest in Teilen öffentlich „spielt“, ist immer noch besser als einer, der rein im Dunkeln agiert. Vor allem würde die Tätigkeit eines agent provocateur oder anderer „autoimmuner“ Entgleisungen erheblich an Reiz verlieren. Es würden Maßnahmen und Prozesse der Überwachungsarbeit einer kritischen Debatte – und seien es die einer geschlossener Kontrollgremien – zugänglicher weil handfester.

Zugegeben, die Idee ist hanebüchen und in vielerlei Hinsicht undurchdacht. Es bleiben hier auch unberücksichtigt die vielen Kontrollmechanismen und diffizilen Handlungsabwägungen, die jetzt schon bei Aufklärung-, Polizei- und Justizbehörden in Einzelfall vorgenommen werden. Zumindest jedoch entlarvt es den Film MINORITY REPORT als in sich selbst mangelhaftes, gar gefährliches gedankenspielerisches Illustrationsparabel des Diskurse – im Sinne Prantls. Allein schon, weil man nicht in Köpfe und Zukunft sehen kann (bzw. letzteres sich durch gegenwärtiges Handeln mitbestimmt wird) und auch nicht so tun sollten, als sei das Netz mitsamt der Interaktionen, dem Verhalten und den Perfomanzen darin ein hinreichender Ersatz dafür.


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[1] Vgl. Prantl, Heribert (2008): Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Politik Angst macht. München: Droemer, S. 122 f.

[2] Ebd., S. 123.

[3] Näheres zu dem Fall HIER, HIER oder HIER.

[4] Vgl. Schmidt, Wolf (2012): Jung, deutsch, Taliban. Berlin: Christoph Links Verlag, S. 114.

[5] Siehe dazu die entsprechenden Passagen in Jenkins, Philip (1994): Using Murder. The Social Construction of Serial Homicide. Hawthorne, NY: Walter de Gruyter.