03.08.2011

Meinung: "Mord" an der Vernunft

Zu Carolin Emckes Der Mord an der Freiheit.


Das Pendel schwingt zurück, könnte man meinen, wenn man Carolin Emckes Artikel in der Zeit (Nr. 31 vom 28.7.2011) liest: Der Mord an der Freiheit lautet sein Titel, und er schaukelt den Mordlauf von Oslo zu einer Grundsatzdiskussion auf, der man sich Norwegen selbst auf bewundernswerte Weise eher verweigert hat.

Während man hierzulande krakeelt, Schuldige ausmacht und Aktionismus demonstriert, geradeso, als hätte Anders Behring Breivik in Berlin und auf Sankt Peter-Ording seine Blutspur gezogen, bewahrt man im Land von Täter und vor allem der Opfer einen bemerkenswerten kühlen Kopf, hält sich mit Schuldzuschreibungen und Erklärungsgewissheiten zurück.

Emcke also konstatiert einen Der Mord an der Freiheit, was insofern richtig ist, als jede Intoleranz „böse“ und jede Glaubensgewalt besonders fürchterlich ist. Nur ist das erstens banal und zweitens belässt es Emcke (leider) nicht dabei. Der Titel ist bezeichnend für das Verquere der emotional verständlichen und zustimmungswürdigen, argumentativ aber dann doch zu simplen und selbst zu rigorosen, nur vorgeblich analytischen Meinungsschau. Mord an der Freiheit – soll das heißen: ERmordung DER Freiheit? Oder wird nur ein bisschen an der Freiheit herumgemordet? Ist das „an“ eine Präposition, die Freiheit ein Ort, an der ein Mord geschehen ist, so wie Trickbetrüger am Berliner Alex ihr Unwesen treiben?

Emcke bemängelt, dass kurz nach den Anschlägen sofort und reflexhaft al-Qaida in Verdacht geriet. Natürlich ist das zu kritisieren – freilich: ist es auch wieder so verwunderlich? –, und Emcke ist ebenso zuzustimmen, dass entsprechend Breivik nicht aus dem Nichts kam. Natürlich ist auch in Zeiten des militant-fundamentalistischen Islamismus nicht der europäische Links- und Rechtsterrorradikalismus zu vergessen (wofür sich al-Qaida und Co. als Vertreter des kulturell und politisch „Anderen“ instrumentell so vorzüglich eigneten). Doch allein schon Breivik als „ersten antimuslimischen Terroristen“ zu bezeichnen, zielt zu weit und damit daneben.

Es spielte auch antiislamistisches Gedankengut in der wirren Wahnwelt des Amokschützen und Bombenbauers eine Rolle, ebenso aber auch die Kritik an der modernen westlichen Welt voller „Überfremdung“, „Feminismus“, an der Sozialdemokratie und an „Kulturmarxismus“. Doch es war nun mal kein wie auch immer geartetes „muslimisches“ Ferienlager, in dem er so unsäglich viele junge Menschen ermordete, und auch im Zentrum Oslos zündete seine Bombe vor keiner Moschee, sondern im Regierungsviertel.

Das sollte kein Trost sein, aber Breivik ist eben nicht so einfach mit einem Baruch Goldstein zu vergleichen, der mit einem Sturmgewehr 1994 fast dreißig Muslime in einer Moschee erschoss – oder eben, auf der anderen Seite, und wie auch Emcke sie ins argumentative Feld führt, Timothy McVeigh und Terry Nichols, die Bombenattentäter von Oklahoma City 1995.

McVeigh und Nichols hatten ebenso wie Goldstein ihre dezidierten Feinde. So traf es einmal die US-Zentralregierung (und keine „Outergroup“) bzw. die gefährlichen, gegnerischen Anderen, eben die Palästinenser. Breivik hingegen wird von Emcke auf einen fremdenfeindliche Antimuslimen reduziert und instrumentalisiert: Ihr geht es darum, ihn als Mahnmal für einen allgemeinen, moderaten, aber nicht minder (vielleicht gar noch) gefährliche(re)n Tenor zu erklären, den sie in Europa ausmacht.

Denn in abgemilderter Form sind die Überzeugungen von Breivik in der bürgerlichen Mitte Europas längst gegenwärtig. Die Rede von der Gefahr der vorgeblichen Unterwanderung Europas durch den Islam ist allseits präsent, die Diskriminierung von Muslimen wird unter Verweis auf Sorgen erklärt, die es ernst zu nehmen gelte, und die Kritik am Multikulturalismus wird nicht mehr als Populismus betrachtet, sondern als vernünftige Einsicht“.

Das Traurige ist hierbei, dass hier für Wahn und Extremismus in die Pflicht genommen wird, was ansonsten legitime Positionen sowohl im Kopf wie auch in der Öffentlichkeit, in Parlament und Medien sind und sein müssen dürfen. In ihrem Rigorismus der Positionen, ihrem Überschwang verkauft Emcke allzu billig, was an aufrüttelnder Wahrheit in der ihrer Gedankenentwicklung durchaus enthalten ist, für eine inkonsistente politische Linienethik, die genau besehen nur ideologische Fassade ist.

Insbesondere der letzte Satz ist so furios wie er staunend macht und entlarvt. Denn wie bitte soll „Kritik“ (an was auch immer!) per se „unvernünftig“, „populistisch“ also gleichbedeutend mit Populismus sein? Ist Kritik nicht Grundbestandteil für eine rationale, eine aufgeklärte gesellschaftliche Debatte? Und ist Kritik in dem Sinne nicht auch immer an sich schon mit Einsicht verbunden, einer Einsicht in den Wert des Hinterfragens, das Unperfekte von Situationen und Gegebenheiten, ist es nicht die Voraussetzung für antiideologische(re) oder zumindest ideologiekritische Betrachtungen?

Sicherlich lässt sich ein kritischer Habitus als Deckmantel für populistische Lippenbekenntnisse missbrauchen, doch: Spielt das eine Rolle? Egal, welches Gedankengut hinter Kritik steht, was sie ist und was sie zunächst einfordert – die Konfrontation mit Fragen und (scheinbaren) Fakten – muss gerade jene freiheitlich orientierte Gesellschaft aushalten können, die Emcke in ihrem Zeit-Beitrag einklagt.

Terroristische Gewalt wird sich nie vollständig verhindern lassen. Aber wir können verhindern, dass Terroristen ihre ideologischen Ziele erreichen, indem wir ihrem Fundamentalismus unsere Liberalität entgegenhalten.“. Fast. Denn "liberal" ist so manches, und sich von Terroristen erpressen lassen ist ebenso falsch, wie sich anderweitig von ihnen hetzen zu lassen. Wie wäre es also, Terroristen nicht Liberalität (oder sonstwas) entgegenzuhalten wie einem Vampir das Kruzifix, sondern schlicht und einfach sich selbst seinen Werten und Grundsätzen treu zu bleiben - ob den Radikalen die gefallen oder nicht, ob sie sie attackieren oder nicht? Und, pardon, was bleibt eigentlich von Liberalität übrig, wenn man sie zwanghaft zur politisch-symbolischen Waffe umfunktioniert?

Nochmals, es geht hierbei nicht um „Multikulturalismus“, sondern an der „Kritik“ daran, die als solche diffamiert! In diesem Satz wie in anderen, die ihm folgen, demonstriert Emcke selbst eine unangenehme Weltanschauung, die bestimmte Werte und Ansichten vielleicht nicht absolut setzt, aber doch als so selbstverständlich, als nachgerade „natürlich“ und unzweifelhaft vernünftig setzt, dass allein schon die Verhandlung über ihre praktische Ausgestaltung undenkbar zu werden droht. Denn wo verläuft die Grenze zwischen Grundwerten und deren Ausfluss in der sozialen, kulturellen und politischen Gestaltung, im Alltag?

Nein, niemand bei Verstand würde Multikulturalismus kritisieren, einfach weil er in Europa schlicht Fakt und Phänomen ist, man kann jedoch die Praxis im Umgang Multikulturalismus bemängeln, das, was in puncto Integration auf der einen und in Sachen Aufgeschlossenheit auf der anderen Seite schief gelaufen ist und nicht hätte schief laufen müssen. Ebenso wie sich Wohl und Weh‘ der Sozialdemokratie, von Frauenhäusern und Arbeitslosenhilfe diskutieren lässt.

Wenn aber Emcke – die in ihrem Schreckszenario Beivik zu der radikalen Speerspitz deklariert, die er doch nur selbst so gerne wäre – klagt:

Was sagt es über Europa, die Gemeinschaft der vielen, wenn kulturelle Homogenität vielen zu einem Vorbild geworden ist? Was sagt es über unsere Aufklärung, wenn Glaubensfreiheit nur noch für den eigenen Glauben gelten soll?“;

– wenn sie Offenheit und Toleranz einfordert, zugleich aber selbst die – gerade irrationalen, unbegründeten, überzogenen – Sorgen, Ängste und Hassgefühle im Sinne von politischer und kultureller, auch geschlechtlicher Marginalisierung rundheraus abtut, unmöglich macht und zugleich in abgeschwächter Form zum Mainstream erklärt, dann wird nur eine Weltvorstellung gegen eine andere getauscht. Sicher, auch die Toleranz hat Grenzen, und gerade gegenüber Verrückten und allzu Absoluten, Unbedingten muss man seine Grundwerte verteidigen. Denkverbote oder aber -forderungen treffen sich nur leider allzu sehr mit dem Jammern und Klagen eines Breivik wie auch anderer Extremisten, die sich und ihre Belange nicht ernst genommen sehen. Mehr aber noch: Das aufgeklärte, vernünftige Denken hat immer auch die stets noch herrschende Unvernunft nicht (als gerechtfertigt) anzuerkennen, jedoch als Realität zu akzeptieren, gerade um gegen sie vorgehen zu können. Mal abgesehen davon, ob die Islamfeindlichkeit so endemisch, so sehr in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, wie es Emcke beschwört. Hasskommentare in Internetforen als irgendwie verlässlichen Beleg zu nehmen, grenzt da selbst wahlweise an populistische Panikmache, Zynismus oder Realitätsverlust.

Der Widerspruch in Der Mord an der Freiheit, der in so gefälligen Sentenzen gipfelt wie die rhetorische Frage „Was sagt es über eine Gesellschaft, wenn »Gutmensch« ein Begriff der Diffamierung geworden ist?“, zielt, wie es Jan Fleischhauer auf Spiegel-Online (Scheinheilige Symathisantenjagd) treffend fasst, lediglich „auf die Verengung der Diskursräume ab“.

Nicht jeder Islamfeind ist ein Terrorist. Nicht jeder Christ ein christlicher Fundamentalist“ weiß Emcke. Recht hat sie, nur: nicht jeder Muslimkritiker ist ein Islamfeind und jeder Papstkritiker ein Antikatholik. Auch über Kreuz gilt dies übrigens: Ein Fundamentalist muss kein niemandem Feind sein (auch wenn es allzu oft der Fall ist). Und: nicht jede Grundsatzdiskussion hat ihren Grund.

Es geht nicht um das Aufzeigen einer Logik – Mord an der Freiheit ist ein Gegenschlag gegen pauschalisierende Fremdenfeindlichkeit (oder zumindest -argwohn), Islamophobie und Kritik an Muslimen, die tatsächlich nach dem 11. September und den „dschihadistischen“ Gewalttaten danach laut wurden und laut werden durften. Und tatsächlich braucht es wie in einem US-Gerichtsfilm Ankläger wie Verteidiger, die auf Teufel komm raus ihre Schlacht schlagen, damit zwischen den beiden Extremen Wahrheit und Gerechtigkeit hervorgepresst wird. So gesehen ist Emcke nicht schlimmer, aber auch nicht diskursethisch besser als jene, die nach den ersten (und zweiten) Meldungen aus Oslo eilig „Al-Qaida!“ schrieen oder aber sonst für eher weniger als mehr (Islam- oder überhaupt: Religions-)Toleranz im eigenen Land plädieren.

Emcke stilisiert Breivik allzu leichtfertig zum Gesellschaftsphänomen und Zeichen einer Bedrohung hoch („Die Anschläge von Oslo werden uns verändern. Die Anschläge von Oslo müssen uns verändern“), aus denen doch Lehren zu ziehen sind – die bitteschön richtigen, natürlich.

Mal richtet sich der paranoide Zorn dieser Männer gegen den Staat, der angeblich ihre Rechte nicht ausreichend verteidigt, mal gegen Einwanderer, die angeblich ihre Privilegien angreifen. Die Opfer dieser Parallelwelt-Vorstellungen variieren. Die Quelle der Gewalt, der Hass auf diejenigen, die angeblich schuld an der eigenen sozialen Bedeutungslosigkeit sind, ist dieselbe“, so Emcke. Richtig, doch das gilt nicht unbedingt nur für rechte Terroristen, für linke, für religiöse: christlich, muslimisch, hinduistisch, jüdisch. Die habe untereinander womöglich mehr gemein als mit ihren "gemäßigten" politischen oder religiösen "Seiten". Und deren Populisten.


Bernd Zywietz